Rätselhafter Dr. Zobin

Ein ehemaliger russischer Militärarzt behandelt Junkies aus dem Westen – mit einer Brachial-Therapie: Binnen 30 Minuten will er ihr Hirn gegen Heroin versiegeln. Drogenexperten sind skeptisch.

Der Tod hat David Schumacher schon immer fasziniert, er ziert ihn sogar. Ein Dämon schmiegt sich an seinen rechten Oberarm. Der Mann hat sich darauf die Fratze eines faulenden Totenschädels tätowieren lassen. Würmer winden sich in den Augenhöhlen. Doch der Tod verschmähte ihn an jenem Morgen im Mai. Da taumelte der 32-jährige Bauarbeiter, drahtig, raspelkurze dunkle Haare, durch den Baseler Kannenfeldpark. In seinen Adern wogte die verdammte Droge. Er wollte Schluss machen, mit einer Überdosis; er legte sich auf eine Bank, dämmerte weg. Es passt zu seinen verpfuschten 16 Jahren auf Heroin, dass er auch seinen Selbstmord verpatzte. Irgendwann fand ihn seine Freundin Martina. Wie durch Watte drang ihre Stimme an sein Bewusstsein: „Du hast den Termin in Moskau.“ Tief im Osten wähnen Junkies wie David Schumacher ihre letzte Hoffnung. In der russischen Hauptstadt suchen sie Erlösung, ein neues Leben ohne Drogen. Es ist ein spätes Echo aus dem Kalten Krieg, das sie nach Russland lockt – eine höchst umstrittene Therapie: Ein ehemaliger Arzt der Roten Armee verspricht, die Sucht innerhalb von 30 Minuten zu löschen. Wer sich aber auf Doktor Michail Zobin einlässt, von dem verlangt er das Leben als Pfand: Er macht seinen Patienten weis, dass sie bei einem Rückfall qualvoll bei vollem Bewusstsein ersticken. 
27 Deutsche sowie rund hundert Patienten aus der Schweiz, Österreich, Italien und Griechenland hat Zobin bereits behandelt. Bald werden es noch mehr: Im September öffnet seine zweite Klinik in Montenegro. Für die Verzweifelten aus dem Westen entfällt dann die lästige Visumpflicht. Noch aber praktiziert Zobin nur in seiner Moskauer Privatklinik. Umgeben von Stacheldraht, liegt sie am Stadtrand auf dem Gelände einer Militärklinik, der MGStand am Eingangstor ist eingemottet. 4200 Euro kostet die Behandlung, Schumacher hat das Geld von seiner Oma. Zobin, klein, Schnauzer, einnehmender Blick, mustert seinen Patienten. Einen Monat nach dem Suizidversuch sitzt Schumacher auf einem knarzenden Sofa. Zobin kritzelt ein Gehirn und Nervenzellen auf ein Täfelchen. Grüne Dreiecke, das sind Rezeptoren an den Nervenzellen, degeneriert durch langjährigen Heroinkonsum. Sie sind es, die nach der Droge lechzen. „Du bist längst nicht mehr Herr deines eigenen Kopfes“, sagt Zobin zu seinem Patienten. 14-mal hat Schumacher im Entzug mit der Droge gerungen, jedes Mal hat er verloren. 200 Euro hat er zuletzt für den Stoff ausgegeben – täglich. Einmal schlug er auf einen Geldautomaten ein, als der keine Scheine mehr ausspuckte. Nachts riss er auf Baustellen Kupferkabel und Rohre von den Wänden. Fünf Euro pro Kilo zahlte der Altmetallhändler. Zobin verspricht das Ende des Alptraums. Er will die kranken Rezeptoren versiegeln und das sogenannte Suchtgedächtnis löschen. „Das ist wie eine Plombe bei einem Zahn“, beteuert der Doktor. Und länger als beim Zahnarzt dauere die Behandlung auch nicht. Das Letzte, was Schumacher von dieser Welt sieht, ist der Rauchmelder an der Decke. Mit nacktem Oberkörper liegt er regungslos auf dem OP-Tisch. Zobin hat ihm eine geheimnisvolle Psychodroge gespritzt. Der Doktor drückt dann mit einer zweiten Kanüle eine milchig-trübe Flüssigkeit in eine Halsvene. Ein Neuropeptid, ein Botenstoff, so behauptet Zobin, blockiere die Rezeptoren. Die Prozedur dauert nur 20 Minuten und erinnert Schumacher an einen irren Trip. Stockend berichtet er danach: „Es hat mich in den Feuermelder gezogen, dann bin ich durch Röhren geflogen. Wahnsinn. Ich hatte eine Rakete im Arsch.“ Der Junkie zittert. In der folgenden Nacht aber umfängt ihn zum ersten Mal seit Wochen tiefer Schlaf. Am Morgen ist der quälende Suchtdruck, das Craving, aus seinem Kopf gewichen. Kann man 16 Jahre Abhängigkeit so einfach vergessen? Immer wieder mal vermelden Wissenschaftler vermeintliche Sensationen im Kampf gegen die Heroinsucht, stets folgt Ernüchterung. Forscher haben die Wirkung der Droge bis ins Detail studiert und kleinste Veränderungen auf molekularer Ebene im Gehirn dokumentiert. Mit Naltrexon existiert auch ein Präparat, das die Opiatrezeptoren blockiert – ähnlich wie angeblich Zobins mysteriöses Neuropeptid. Naltrexon wurde in Deutschland in der Entzugsbehandlung von Heroinabhängigen eingesetzt. 
Doch die Bilanz aller Therapien ist enttäuschend. Noch immer werden 90 Prozent der Patienten nach dem Entzug rückfällig. Selbst nach monatelangen Therapien sind es noch zwei Drittel. Die Schulmedizin steht schwer Suchtkranken ratlos gegenüber. Zobin dagegen jubiliert: Drei von vier seiner Patienten, so behauptet er, blieben clean. Ist etwa in Russland jener Durchbruch gelungen, dem Forscher im Westen vergebens nachjagen? Oder ist es doch nur die Aufschneiderei eines geldgierigen Kurpfuschers? Im Rang eines Oberleutnants diente Michail Zobin Anfang der achtziger Jahre als Psychiater in einem sowjetischen Militärkrankenhaus in Usbekistan. Im südlichen Nachbarland kämpfte die Rote Armee seit 1979 gegen afghanische Mudschahidin. Die Verwundeten waren so zahlreich, dass die Ärzte Lazarettzelte vor der Klinik aufschlagen mussten. Viele der Verletzten waren dem Heroin verfallen: Afghanistan ist noch heute einer der weltgrößten Opiumproduzenten. Zobin will seine Therapie damals auf eigene Faust entwickelt haben, lediglich Vorarbeiten stammten aus den Kampfmittellabors des Militärs: „Wir haben das an abhängigen Ratten getestet.“ „Versuch, selbst zu atmen“, ruft Zobin. Über Schumachers Bauchmuskeln läuft ein hilfloses Flattern. Atmen kann er nicht und auch nicht schreien. Es ist der zweite Behandlungstag bei Zobin, die Probe aufs Exempel. Sein Leben hängt jetzt am Plastikschlauch der Beatmungsmaschine. Zobin hat ihm ein Opiat gespritzt, 40-mal schwächer als Heroin. War die Versiegelung erfolgreich, dann wirkt schon diese Spritze wie eine Überdosis. Sie lähme das Atemzentrum, weil die Rezeptoren das Gift nicht vorher abfangen könnten, behauptet Zobin. „Abenteuerlich“ findet das Karl Mann, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung. „Das macht wissenschaftlich keinerlei Sinn“, urteilt auch Felix Tretter, einer der führenden deutschen Suchtexperten. Der Chefarzt des Isar-AmperKlinikums in München hat selbst über Jahre Patienten mit dem Rezeptorblocker Naltrexon behandelt: „Ich habe den starken Verdacht, dass da einer mit verzweifelten Menschen Geschäfte macht.“ Ist der Moskauer Doktor also doch nur ein Quacksalber und Halsabschneider? Dr. Zombie haben ihn manche Medien genannt und ihn als Hexenmeister dargestellt. Jene, die Zobin in Moskau zu neuem Leben erweckt hat, treffen sich in einer Grillhütte in Baden, einem Städtchen in der Schweiz. Würstchen und Maiskolben brutzeln, eine Jazzcombo spielt. Drei Dutzend von Zobins ehemaligen Patienten aus Deutschland und der Schweiz feiern ihre Rettung. Christian Rambow aus Berlin hat sich eigens ein kleines rotes Abzeichen mit Hammer und Sichel an die Brust geheftet, ein Andenken aus Moskau. Vor vier Jahren verlor er seine Freundin an die Droge. Einmal führten ihn Polizisten ab, vor den Augen seiner verstörten Mutter, das war 1996. Vor einem Jahr reiste er nach Moskau, seitdem ist er nach eigenen Angaben clean. Christopher aus Interlaken war 20 Jahre auf Heroin, da stellte ihn seine Frau Nadine vor die Wahl: entweder die Droge oder ich und die beiden Kinder. Christopher, 36, fuhr im vergangenen November nach Moskau. „Zobin war für uns ein Segen“, meint Nadine. „Heute schaue ich mir Chris an und denke: was für ein guter Ehemann und Vater.“ 3500 Patienten aus Russland und dem Ausland will Zobin seit 1994 behandelt haben. Lediglich bei 25 Prozent habe seine Therapie nicht funktioniert; nur 26, also weniger als ein Prozent, seien nicht mehr am Leben. Doch kein unabhängiger Experte hat all diese Behauptungen bislang überprüfen können. In wissenschaftlichen Fachzeitschriften hat Zobin seine Ergebnisse nie publiziert. Warum er die Rezeptur der Therapie geheim halte? Der freundliche Herr mit den grauen Locken laviert: Mal verspricht er, seine Daten bald zu veröffentlichen; mal fürchtet er, seine Therapie könnte in falsche Hände geraten. Dann wieder fabuliert er von streng geheimen Projekten des Militärs, von Problemen, die drohten, wenn er darüber offen rede. Rätselhafter Dr. Zobin. Der Doktor lächelt: „Psychotherapie ist nie vollkommen transparent. Sie bleibt eine Kunst.“ Im dritten Stock einer herrschaftlichen Berner Villa sitzt Robert Hämmig, 56, Prä- sident der Schweizerischen Gesellschaft für Suchtmedizin. Die Neugier trieb ihn vor zwei Jahren nach Moskau, das Interesse an dem, was von sowjetischen Forschungen versprengt übrig geblieben sein könnte. „Eines ist sicher“, betont Hämmig, „Zobin ist kein Wirrkopf. Es ist virtuos, wie er das Vertrauen der Patienten gewinnt.“ Doch auch Hämmig findet die Antworten zu vage, die Zobin auf die Frage nach all den Monitoren und piependen Geräten bei der Behandlung gibt: „Er ist wohl nur der Anwender einer Therapie, die er selbst nicht bis ins Detail versteht.“ Gelöst sitzt Schumacher beim Italiener, einen Monat nach Moskau. In Zürich hat er wieder Arbeit gefunden. Auf dem Bau ist er viel im Freien. Der fleischig rote Teint ist sattem Braun gewichen. Fünf Kilo hat er zugenommen. „Es ist ein kleines Wunder“, sinniert er. Tattoos liebt er noch immer – doch sein neues ist keine Totenfratze. In geschwungenen Lettern steht es links auf seinen Rippen: „Reborn, remade. Survived“.
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